Wenn man nach Berlin zieht und dort wohnen bleiben möchte, ist es wichtig, dass die olfaktorische Wahrnehmung, also der Geruchssinn, in seiner Leistung deutlich nachlässt. Diejenigen, die „Das Parfüm“ von Patrick Süskind gelesen oder aus Bequemlichkeitsgründen auf den Film gewartet haben, wissen, wie sehr der Held
des Buches, Jean-Baptiste Grenouille, im 18. Jahrhundert unter den Gerüchen von Paris gelitten hat.
Doch den meisten von uns wird die Gnade zuteil, dass der Geruchssinn nach längerem Wohnen – ich denke so ab circa zehn Jahren – in Berlin nachlässt. So heißt es oft bei Bekannten aus dem Schwabenland, die mich in Berlin besuchen: „Reinhold, hier stinkts!“ Ich frage dann regelmäßig verwundert nach: „Wo? Ich rieche nichts.“
Es gibt jedoch einen S-Bahnhof in Berlin, natürlich in Neukölln, wo sogar meine olfaktorische Wahrnehmung meinem Gehirn noch die Meldung „Gestank“ signalisiert: der S-Bahnhof Neukölln. Diese Bahnstation ist seit Dezember 1993 wiedereröffnet, und ich möchte nicht behaupten, dass es bei seiner Benennung in Ringbahnhof Neukölln 1912 schon genauso roch. Doch von 1993 bis zum heutigen Tag kann man dort Geruchserlebnisse der besonderen Art erleben. Bei einer Fahrt mit dem Aufzug zur darunterliegenden U-Bahn findet man sehr schnell die Lösung für Harnstoff mit vier Buchstaben.
Geübte Taucher sind bei einer Aufzugsfahrt naturgemäß im Vorteil, denn sie können für die Dauer der Fahrt leicht die Luft anhalten. Ich für meinen Teil wende den Trick an, an eine herrliche Ostseebrise zu denken, die einem an einem Septembernachmittag bei einem Spaziergang am Ostseestrand bei Warnemünde vom Meer her in die Nase weht. Ich bin mir sicher, dass jeder dabei so seine Methode hat, diese Fahrt zu überstehen.
Dabei wäre die Lösung dieses Problems so einfach, und ich bin erstaunt, dass noch niemand darauf gekommen ist. Man könnte nicht nur diesen üblen Gestank beenden, sondern im Gegenteil mittels Gerüchen den S-Bahnhof Neukölln attraktiver machen. Und zwar durch die Umwandlung in den ersten Geruchsbahnhof Berlins – vielleicht
sogar weltweit. Drogerie- ketten können auf dem S-Bahnsteig Flächen mie- ten und auf speziellen Bodenplatten einen Parfümduft aufbringen. Ich stelle mir für den Anfang mindestens fünf verschiedene Düfte auf dem Bahnsteig vor. Der Aufzug dürfte dabei aber auf keinen Fall vergessen werden! Ich bin mir sicher, dass sich schon in einigen Jahren die bekanntesten Parfümhersteller mit Angeboten überbieten werden, sich auf dem S-Bahnhof Neukölln einen Duftplatz zu sichern.
Ich jedenfalls habe letzte Woche schon einmal im S-Bahn-Aufzug mit dem Versprühen meines herben Rasierwassers einen Probeduft vorgestellt. Die Reaktion der anderen drei Fahrstuhlgäste war durchgehend positiv.
=Reinhold Steinle=
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