Seinen Wochenmarkt-Besuch lässt sich Herr Bartel nicht nehmen. An jedem dritten Samstag holt Victor ihn ab, bei jedem Wetter. „Ohne Victor müsste ich darauf verzichten“, sagt der 84-Jährige, der seit drei Jahren in einem Neuköllner Pflegeheim lebt und einen Rollstuhl braucht, um vorwärts zu kommen. Victor ist ein Stück Vergangenheit, das den Sprung in die Gegenwart von Herrn Bartel geschafft hat.
Früher wohnten sie als Nachbarn nebeneinander, zunächst ohne näheren Kontakt miteinander zu haben. Victor, der Senegalese, war für den Witwer anfangs nur „der Schwatte“, Herr Bartel für den ein verbitterter Alter mit freund- lichen blauen Augen. Im Som- mer 2006 während der Fußball- WM begann ihre zaghafte Annäherung. Später kam das gemeinsame Kreuzworträtseln dazu: „Ich hab dadurch viel Deutsch gelernt“, sagt der 42-Jährige. „Und ich“, fügt Herr Bartel zu, „konnte von seinem enormen Wissen profitieren.“ Ein Unding sei es, dass er das immer noch nicht an Schüler weitergeben dürfe, obwohl er ein ab- geschlossenes Lehrer-Studium in seiner Heimat absolviert hat und seine Deutsch-Kenntnisse inzwischen nahezu perfekt sind.
Als es stärker zu regnen beginnt, schiebt Victor Herrn Bartel unter das Dach eines Gemüsestands. „Zum Kotzen ist das“, echauffiert sich der alte Mann, „wie dieses Land mit euch Ausländern umgeht. Dass ihr euch das gefallen lasst …“ Denen, die gar keine Ausländer seien, gehe es doch auch nicht besser, bemerkt Victor: „Aber als Steuerzahler sind wir gut.“ Und um Tore für Deutschland zu schießen, schaltet sich der Gemüsehändler, dessen Vorfahren wie die von Mesut Özil aus der türkischen Provinz Zonguldak kamen, in das Gespräch ein. „Weshalb geht ihr nicht auf die Straße und demonstriert?“, fragt Herr Bartel die beiden Männer. Sie sehen sich an und scheinen die Idee alles andere als unsympathisch zu finden.
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