Mit 2 PS durch Neubritz

Hufgetrappel, Kutschen, Pferdeäpfel auf der Straße, schnaufende Gäule – was im Richardkiez zum Alltag gehört, führt im einige Minuten entfernten Neubritz zu jeder Menge Aufsehen. sanierungsgebiet wederstraße, neukölln,kutschenfahrtHunde bellen die Verursacher der ungewohn- ten Geräusche irritiert an. Passanten bleiben stehen, win- ken, fotografieren. Kleine Mäd- chen bestaunen mit großen Augen, was sie sonst nur in Büchern oder im Fernsehen zu sehen kriegen. Autofahrer mit Streetfighter-Attitüde reagieren genervt auf die lebendigen Ver- kehrsentschleuniger, verzichten dann aber doch lieber aufs Hupen und versuchen sie zu überholen.

An eine neue optische, akustische und olfaktorische Facette muss in Neubritz nun sanierungsgebiet wederstraße, neukölln,thomas blesing,wolf schulgenaber niemand gewöhnen: Die beiden Kutschen mit den Kaltblütern aus der Schorfheide rumpelten nur gestern durch das Gebiet. Sie waren Ab- schiedstouren für das Sanierungs- gebiet Wederstraße, das nun durch rechtskräftigen Beschluss keines mehr ist. Rund 39 Mio. Euro wurden aus verschiedenen Fördertöpfen in den letzten 15 Jahren in zahlreiche große und kleine Projekte auf dem etwa 24 Hektar großen Areal gepumpt.

„Einschließlich der Vorbereitungszeit waren es sogar 17 Jahre“, sagt Bertil Wewer, der Vorsitzende der Betroffenenvertretung, die sich aus Anwohnern und Ge- werbetreibenden formierte und den gesamten Prozess aktiv begleitete. Ende 2009 wurde er mit der Neuköllner Ehrennadel  für seinen unermüdlichen Einsatz ausgezeichnet, den er sich in einem Impuls aufgehalst hatte: „Als für die Betrof- fenenvertretung ein Kassenwart gesucht wurde, sagte ich spontan, dass ich das schon mal gemacht habe.“ Beim Posten des Kassenwarts blieb es nicht, aber Bedauern darüber lässt der omnipräsente Macher nicht erkennen.

sanierungsgebiet wederstraße, neukölln,thomas blesing,wolf schulgenEine „tolle Entwicklung“ sei es, die das Gebiet rund um den Deckel der Autobahn gemacht habe, findet Neu- köllns Baustadtrat Thomas Blesing (2. v. l.).  Insbesondere für Familien habe die Gegend durch neue Ein- richtungen für Kinder und Jugendliche deutlich an Attraktivität gewonnen, der Bau von Townhouses solle die weiter steigern. „Doch schon jetzt lässt sich sagen, dass es hier alles für ein angenehmes urbanes Leben gibt“, sagte Blesing gestern Mittag bei der Abschiedsrede vor der Abschiedstour im Carl-Weder-Park. Und er muss es als jemand, der „in fußläufiger Entfernung“ wohnt, wissen. Was er auch weiß – dass es durch den A 100-Bau, der die Grundlage für die Ernennung zum Sanierungsgebiet lieferte, „viele Opfer“ gab: Anwohner hätten umgesiedelt und Gewerbetrieben der Wegzug auch durch finanzielle Bonbons schmackhaft gemacht sanierungsgebiet wederstraße, neukölln,autobahndeckel,wederparkwerden müssen. 75 Gebäude ent- lang der Wederstraße wurden daraufhin abgerissen.

Auch um die ging es, im Vordergrund stand jedoch das Entwicklungs- potenzial, das in Neubritz erkannt und beackert wurde. Von „großen Fortschritten, die erreicht wurden“ spricht dann auch Wolf Schulgen (l.), der Projektverantwortliche des Senats für Stadtentwicklung. Grün- und Freiflächen habe man angelegt, Spielplätze entstanden und das neue Gewerbegebiet Juliushof erfreue sich so großer Beliebtheit, dass innerhalb weniger Monate alle Parzellen verkauft waren. Straßen wurden frisch asphaltiert und verkehrsberuhigt, Kitas, Freizeit- und Kulturorte geschaffen. Noch gearbeitet werde indes am Erweiterungsbau der Zürich-Schule; am 3. November werde dieser eingeweiht und die rundum erneuerte Grundschule dann fit  für den Ganztagsbetrieb.  Darüber hinaus  würden  nur noch einige Folgemaßnah-

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men im Gebiet ausgeführt werden: Schulwegsicherungen, Straßen- und Gehweg- erneuerungen und andere Kleinigkeiten. Der Berliner Senat habe mit denen nichts mehr zu tun. „Die Verwaltungshoheit und Verantwortung für das ehemalige Sanierungsgebiet“, so Schulgen, „liegt jetzt komplett beim Bezirk Neukölln.“

Montag wird Baustadtrat Blesing bereits wieder in Neubritz sein. Dann eröffnet er zusammen mit Jugendstadträtin Gabriele Vonnekold die Spiel- und Bewegungs- fläche für Hortkinder am Jugendberatungshaus Neubritz sowie dessen Kellerge- schoss, das für die Jugendarbeit hergerichtet wurde. Und auch Bertil Wewer wird es sich vermutlich nicht nehmen lassen, dieses Ereignis mitzuerleben – obwohl das Ende der Sanierungsgebiet-Ära auch das der Betroffenenvertretung bedeutete.

_ensa_

„Nachbarinneuköllnaward“: ein Pokal für beispielhafte nachbarschaftliche Leistungen in Neukölln

Ein Award hätte es nicht unbedingt sein müssen. Eine Auszeichnung oder Ehrung hätte es für Beate Hauke auch getan, denn sie findet es furchtbar, dass immer mehr englische Wörter im deutschen Sprachgebrauch zur Selbstverständlichkeit geworden sind. Trotzdem – gestern bekam sie einen Award: den Nachbarinneuköllnaward.

Alle zwei Jahre wird auf Initiative der Genezareth-Gemeinde jemand aus dem Schiller- oder Rollbergkiez für sein Engagement im Viertel und ein vorbildliches nachbar- schaftliches Verhalten mit dem Preis ausgezeichnet. „Dahinter“, sagt Elisabeth Kruse, die Pfarrerin der Gemeinde, „steckt die Idee, ganz gezielt positive Beispiele hervorzuheben.“  Dass Vorbilder zum Anfassen besonders in Problemkiezen wichtig nachbarinneuköllnaward,beate hauke,neuköllnsein können, sagt sie nicht, doch es würde das Ansinnen abrunden.

Beate Hauke (r.) kennt ihren Kiez rund um die Schillerpromenade seit dem Kindesalter. Und viele, die im Kiez wohnen oder arbeiten, kennen sie. „Bekannt wie ein bunter Hund“ sei sie, sagen die einen. Andere können aus dem Stand diverse Dinge auf- zählen, die Beate Hauke zusammen mit dem Pro Schillerkiez e. V., dessen Vorsitzende sie ist, für ihren Kiez getan hat und noch tut. Dr. Franziska Giffey (l.), Neuköllns Stadträtin für Bildung, Schule, Kultur, Sport und – neuerdings auch! – Europa-Angelegenheiten, die der Umtriebigen gestern beim Nachbarschaftsfest von der Genezareth-Gemeinde und der Stadt und Land Wohnbauten GmbH den Preis überreichte, musste zunächst zugeben, dass sie Beate Hauke bis dato nur namentlich kannte. Früher, sagte sie, habe sie immer E-Mails von ihr bekommen, die einen Überblick über etliche Veranstaltungen in Neukölln gaben: „Jetzt veröffentlicht sie die in ihrem Blog, der täglich beweist, dass Neukölln rockt.“

Doch den „Nachbarinneuköllnaward“ bekam sie, wie aus der Jury zu hören war, in erster Linie für etwas anderes:  für die  Hartnäckigkeit und ihre Bemühungen, dem Schillerkiez wieder zu einem Wochenmarkt zu verhelfen.  Gegen alle Zweifel, ob das klappen würde, entwickelte sie zusammen mit einigen Unterstützern das Projekt Schillermarkt. Im Mai letzten Jahres fand er erstmals auf dem Herrfurthplatz statt, seitdem gibt es ihn wöchentlich, Samstag für Samstag. „Er ist zwar immer noch nicht über die Stadtgrenzen Berlins hinaus bekannt“, sagt Elisabeth Kruse, die zur Jury gehörte, „aber es gibt ihn noch und er ist im Laufe der Zeit immer wichtiger für den Kiez geworden.“ Als Einkaufsort ebenso wie als Treffpunkt für die Anwohner.

Der Aufbau des Schillermarktes sei zweifellos ihr größtes Projekt gewesen, doch kleinere Sachen wie zum Beispiel die vier Kiez-Reinigungsaktionen, die sie 2005 und 2006 organisiert habe, waren für sie genauso wichtig, relativiert Beate Hauke. Den Preis – ein von der Rixdorfer Schmiede gespendeter Pokal, der von dem Auszubildenden Benjamin Hanf entworfen und geschmiedet wurde – sieht sie als „Dankeschön und Anerkennung für die viele ehrenamtliche Arbeit“ , die sie schon in den Kiez gesteckt hat. Er wird einen Platz in ihrem Wohnzimmer bekommen.

„Bisher“, sagt sie schmunzelnd und stolz, „hab ich bestenfalls mal Urkunden für sportliche Leistungen in der Schule bekommen. Das Sammeln von Pokalen war mehr das Hobby meines Sohnes, der Radrennen gefahren ist.“ Beim Einsatz für das nachbarschaftliche Miteinander hat sie die Nase vorn.

_ensa_