Sein Tod ist nach wie vor ein Riesenrätsel: Vor fast zwei Monaten wurde, wie auch hier berichtet, der leblose Körper des Neuköllner Konzertpianisten Christian Glinz in der Irischen See entdeckt – rund 40 Kilometer vom Parkplatz entfernt, auf dem zwei Tage zuvor der Mietwagen des gebür- tigen Schweizers aufgefunden worden war.
„Kein Mensch weiß“, so seine Mutter, „was passiert ist.“ Ob es ein Unfall war, er beim Baden ertrunken, von den Klippen ins Meer gefallen ist oder sich selber in die Tiefe gestürzt hat? Das wird womöglich nie geklärt werden, für am wahrscheinlichsten wird in seinem Umfeld jedoch letzteres gehalten. Auch ohne dass ein Abschiedsbrief gefunden wurde. Sehr melancholisch sei Christian Glinz in den Wochen zuvor gewesen, noch verschlossener als sonst.
Gestern Abend nahmen etwa 20 Freunde und Bekannte mit seiner aus der Schweiz angereisten Mutter von ihm Abschied – im „Froschkönig“, wo der Pianist zu Lebzeiten viele Menschen mit seinen Konzerten begeisterte. Der über 150 Jahre alte, schwierig zu spielende Flügel, der dort steht, hatte es ihm angetan. „Christian hat für die Musik gelebt, das war seine größte Liebe„, erinnert Patrick Giersch, einer der Grün- der der Literatur- und Pianobar nahe des Tempelhofer Feldes. Und so war er es auch, der die Musik zu seinem ei- genen Abschied beisteuerte. Der Mitschnitt eines Konzertes mit Werken von Beethoven, Skrjabin und Liszt flimmerte über die Großbildleinwand, zeigte noch einmal die Virtuosität und überbordende Leidenschaft, mit der Glinz Stücke umsetzte. „Gerade bei Sachen von Skrjabin konnte man sich mit ihm zusammen regelrecht in Ekstase spielen“, verriet eine ehemalige Kommilitonin, die extra aus Leipzig gekommen war. Ihre Bitte, selber noch ein Werk des russischen Komponisten spielen zu dürfen – „für euch, für mich
und für Christian“ – wurde gerne angenommen.
„Er hatte wirklich ein waghalsiges Tempe- rament“ , beschrieb Glinz‘ Mutter ihren Sohn, den sie als Kleinkind zum Wohl des Kindes an Pflegeeltern gegeben hatte. Von dessen Tod erfuhr sie nicht etwa durch die irischen Behörden, sondern erst eine Woche später durch einen Jugendfreund des Pianisten: Der habe die Meldung in der Online-Ausgabe einer irischen Zeitung entdeckt und sie daraufhin sofort angerufen. Weitaus schleppender ver- liefen die Versuche der geschockten Mutter, in Telefonaten nach Irland Details über die Ereignisse zu erfahren. „War es ein Fehler von der geistigen Welt, Christian schon jetzt abzurufen?“, fragte sie in die Runde. Sie hätten sich leider nur selten gesehen und überwiegend telefonisch Kontakt gehabt. Nun war es ihre Aufgabe, seine Wohnung aufzulösen, die Nähe zu allem, was er besaß und ihn umgab, zu durchleben. Statt eines Grabsteines werde er einen Baum gepflanzt bekommen, sagte sie. Wurzeln für einen, der zwischen Extremen schwankte.
Zwischen „großem Leid, tiefer Freude und totaler Lebensgier“, wie es Anna Simon, eine Musikerkollegin von ihm gestern nannte. Er könne doch gar nicht jazzen, meinte er mit schweizerischem Zungenschlag, als die Chansonsängerin und Songschreiberin ihn, den klassischen Konzertpianisten und Dirigenten, zum gemeinsamen Musikmachen aufforderte. Zwei Genres prallten aufeinander. Wunderbar sei es gewesen, wie er ihre Musik aufgepeppt habe, nachdem alle Vorbehalte über Bord geworfen waren: „Wenn er aufgehört hat zu denken, war er absolut großartig!“
_ensa_
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