Wird hier für etwas geworben, ein Beitrag im Feuilleton angekündigt oder über die Geburt von Sechslingen informiert? Wer nicht gerade der chinesischen Schriftsprache mächtig ist, könnte diesen Zeitungsausschnitt drehen und wenden und würde trotzdem nicht das Geringste verstehen.
So – oder so zumindest fast so – geht es rund vier Millionen Menschen in Deutschland, wenn sie Ge- schriebenes in deutscher Sprache sehen, denn sie sind Analphabeten. Genau genommen: funktionale An- alphabeten. Gegenüber totalen Analphabeten haben sie den Vorteil, dass sie immerhin einzelne Schriftbilder lesen oder ihren Namen schreiben können. Doch ihre Kenntnisse reichen – trotz Schulbesuch! – bei weitem nicht aus, um den Alltag zu meistern ohne aufzufallen.
Wenn sie über Sonderangebote auf dem Laufenden sein wollen, brauchen sie Hilfe, was wiederum ein vor- heriges Outing bedeutet. Entschließt sich der Hersteller der Butter, die sie schon lange kaufen und mögen, das Aussehen der Verpackung gründlich zu ändern, ist der Artikel für sie plötzlich fremd und unauffindbar. Sollen sie spontan etwas aufschreiben, haben sie eine akute Sehnenscheidenentzündung, die Brille vergessen oder eine andere Entschuldigung parat, es nicht tun zu können. Dass Turmstraße, Rathaus Neukölln, Alexan- derplatz oder Spandau auf dem Schild im U-Bahn-Tunnel steht, wissen sie nur, wenn sie sich zuvor die Optik und Umgebung eingeprägt haben. Müssten sie sich beim Fernsehen nur auf ihre Augen verlassen, hätten sie keine Chance, einen Batzen Geld für die richtige Antwort auf die Frage zu gewinnen, ob Kota Kinabalu a) auf Borneo liegt oder b) der Name einer renommierten Designerin ist – selbst wenn sie es wüssten. Etwa jeder 20. in Deutschland führt dieses Leben, Seite an Seite mit allen, die lesen und schreiben können.
Heute ist Weltalphabetisierungstag, um an die Problematik zu erinnern. Übermorgen wird er mit einem Tag der offenen Tür beim Neuköllner Verein Lesen und Schreiben (LuS) gefeiert, der als einzige Einrichtung Berlins ganztägige Alphabetisierungskurse für Erwachsene anbietet. Zusammen mit der Ortsgruppe der Lokalen Agenda 21 initiierte er jüngst das Aktionsbündnis Alphabetisierung und Grundbildung Berlin-Neukölln, um den etwa 15.000 Analphabeten in Neukölln eine noch stärkere Lobby geben zu können.
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